Darf man als psychisch kranker Mensch eigentlich sagen, dass man sein Leben gerade richtig scheiße findet, ohne dass einem direkt die Zwangseinweisung droht? Sorry, dass ich so frage, aber ich muss sowas ja fragen, bevor ich Gedanken äußere, mit denen andere nicht umgehen können.
Also wer das Bedürfnis verspürt mir Nachrichten zu schreiben, die folgende Teile beinhalten könnten, sollte besser aufhören weiterzulesen.
„Sowas darfst du gar nicht erst denken.“
„Aber du bist doch immer so gut drauf, wenn wir uns sehen.“
„Das wird auch bald wieder besser.“
Und mein All-Time-Favorit, den Mutti ja wirklich immer noch bringt: „Du musst mal raus gehen, an die Sonne. Der Mensch braucht Vitamin D um glücklich zu sein.“
Ich hab einige Jahre nach einem Vergleich für meinen Lebenswillen gesucht. Es war immer so schwierig anderen Leuten zu erklären, dass man nicht so richtig dolle an seinem Leben hängt, aber auch nicht gleich suizidal ist. Eines Tages war der Vergleich plötzlich da und ich glaube, den können sich viele auch gut vorstellen.
Man nehme eine drei-Spurige, viel befahrene Autobahn. Da ist zwar viel los, aber es staut sich noch nicht. Noch können die Lkws 80 fahren und die Pkws irgendwas zwischen 100 und 130km/h.
Neben den drei Spuren gibt es natürlich noch einen Standstreifen, an den eine Leitplanke angrenzt. Hinter dieser Leitplanke ist ein weites Feld, was in etwa einem halben Kilometer an die nächste Stadt angrenzt. Du wirst einfach so auf den Standstreifen geschmissen und musst selbst entscheiden, wie du jetzt mit der Situation umgehst.
Szenario eins wäre das Beste, wie es laufen würde, wenn man sein Leben so richtig krass liebt.
Man steht auf dem Standstreifen, krallt sich eine liegengebliebene Warnweste, zieht diese hektisch an, hechtet auf die Leitplanke zu, macht einen Sprung rüber und läuft schnell über das Feld, von der Autobahn weg, zurück in die Stadt. Bloß keine Sekunde zu lange im Gefahrenbereich stehen.
Das zweite Szenario wäre, dass man gemütlich zur Leitplanke läuft, drüber klettert und dann dahinter stehen bleibt und die Autobahn beobachtet. Da ist genug Abstand zu den bösen, gefährlichen Autos, aber man ist trotzdem fasziniert von dem Verkehr.
Das schlechteste, also das vierte Szenario: Du rennst mit vollem Anlauf auf die Autobahn und hoffst, dass du möglichst schnell überfahren wirst und es endlich hinter dir hast.
Wer nun zählen kann, weiß, dass die drei fehlt.
Drittens: Du stehst auf dem Standstreifen. Den aktiven Drang auf die Autobahn zu rennen, hast du nicht. Aber angenommen unter dir würde sich jetzt auf magische Art und Weise eine Eisscholle auftuen, auf der du ausrutschst und vor den nächsten Lkw knallst – Es wäre okay für dich. Du nimmst dir nicht aktiv das Leben, aber wenn es jetzt plötzlich einfach vorbei wäre, wäre das vollkommen in Ordnung für dich, weil du nicht um jeden Preis an deinem Leben hängst.
In diesem Szenario befinde ich mich seit etwa 3-4 Jahren. Vor 7 Jahren war ich noch bei Nummer vier.
Ich wollte sterben. Ich wollte das alles nicht mehr ertragen müssen. Irgendwann änderte sich das und der akute Suiziddrang nahm ab. Aber wisst ihr wie anstrengend das ist, seit Jahren im gleichen Stadium festzuhängen und nicht voranzukommen?
Ich will mir nicht das Leben nehmen, würde ja eh niemand verstehen, wieso ich das tuen würde, aber ich möchte so auch nicht um jeden Preis leben. Denn betrachten wir es mal realistisch. Ich bin 27 Jahre jung und seit über 14 Jahren psychisch krank. Ich bin länger krank als gesund. Ich weiß nicht mehr, wie es sich anfühlt bedingungslos glücklich zu sein. Klar habe ich auch gute und schöne Momente. Und ja, hin und wieder grinse auch ich über beide Ohren, wenn mich jemand wirklich positiv überrascht. Aber jeder glückliche Moment und jedes Grinsen wird immer von der restlichen Last schnell wieder verdrängt. Denn ich habe mehr schlechte als gute Momente.
Und um meine einleitenden Worte aufzugreifen… Ja, ich weiß, wie sich das für viele liest.
„Oh weh, oh weh, oh weh… (immer diese schlechten Witze, die einem direkt in den Kopf kommen… Verstehen wohl nur Kollegen. Sorry.) Die Marie ist ja so unglücklich. Da muss man doch was tun. Da kann man doch nicht einfach so zusehen.“
Doch kann man und muss man wohl auch zwangsläufig, wenn man mich, irgendwie in seinem Leben mitschleift. Mit mir ist halt nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Und erst recht ist nicht alles gut und schön und glücklich. Und erst recht wird man von mir keine Begeisterung bekommen, wenn man mich nun ständig nervt, weil man ein Helfersyndrom hat. Nachfragen ist vollkommen okay, aber lasst mich meine Probleme so lange alleine lösen, bis ich euch um Hilfe bitte.
Ich würde aber eine Ausnahme machen. Es gibt eine Sache, mit der man für immer einen Joker bei mir hätte, mit dem man mich jederzeit nerven dürfte.
Ein kleiner Hof, wo genug Platz für eine kleine Pferdeherde, ein paar Schafe, Ziegen, Hühner und Kühe ist. Vielleicht noch zwei Hofschweine. Oh, und die Katzenbabys nicht vergessen. Der darf nicht am Arsch der Welt sein, aber die Nachbarn sollten einem auch nicht auf den Teller schauen können. Also ein bisschen Abstand, aber in 15 Minuten den nächsten Supermarkt erreichen können, wäre gut. Auf dem Hof steht ein schönes Häuschen, wo genug Platz für Kinder, Hunde und Kleintiere ist. Kinder lieben Hasen und so Kleinvieh. Ich helfe auch gerne beim Ausbau des Hauses. Dazu ein großer Raum, in dem ich mich jederzeit einschließen kann, wenn mir die Welt zu groß und laut wird. Wo ich dann für ein paar Stunden untertauchen kann, um mich zu akklimatisieren und wieder mit der Welt klarzukommen. Mein eigenes Reich in diesem Traumhof. Und wo ich von Kindern und Tieren, auf einem schönen Hof rede, darf natürlich der Traummensch nicht fehlen. Irgendwer, der meine ganzen Macken und Wehwehchen akzeptiert und respektiert und trotzdem das Beste daraus machen kann.
Wer es schafft, mir dafür den Weg zu ebnen: Du darfst dann nerven, so viel du willst. Also fast. Ich bleib Borderlinerin. Wer mich zu sehr nervt, verscherzt es sich trotzdem mit mir. 😉
Solange ich an diesem, vielleicht etwas altmodischen und spießigen Traum selbst arbeiten muss, will ich von niemandem erklärt bekommen, was ich tun muss um glücklich zu werden. Wäre das so einfach, wäre ich übrigens nicht länger krank als gesund und bräuchte keine Psychotherapie um diese Altlasten mal endlich aufzuarbeiten.
Warum ich das schreibe?
Weil es mir seit Monaten zusehends schlechter geht. Die ganze gesundheitliche Situation und diese Corona-Ungewissheiten, ob und wie man seinem Job nachgehen kann, haben viel Kraft und Nerven geraubt. Ich weiß an einigen Tage nicht mehr, warum ich überhaupt noch aufstehe, und mittlerweile bin ich an Arbeitstagen froh, wenn ich nachts noch mit Schmerzen wach liege, weil ich dann eine Ausrede habe, warum ich nicht arbeiten kann. Die restlichen Arbeitstagen, die noch die Mehrheit darstellen, raffe ich mich trotzdem auf, weil ich weiß, dass es ohne die Arbeit nur noch schlimmer wäre. Das gleiche gilt für’s Pferd, aber das hab ich ja schon mal kund getan. Würde ich mir die Verpflichtungen auch noch wegnehmen, dann würde es ganz schnell, ganz steil Berg ab gehen.
Ich hoffe aktuell einfach, dass ich die Zeit bis April gut überstehe. Von Ende Januar bis Anfang April bin ich jetzt offiziell „im Krankenurlaub“, weil ich Ende Januar erneut operiert werde. Ich dachte eigentlich, dass es im Dezember schon so weit wäre, war’s aber nicht. Und dann hoffe ich, dass ich ab April wieder Vollgas geben kann und nicht großartig eingeschränkt bin. Im besten Fall kann ich mich dann von April bis Oktober zu Tode schuften und mal wieder Kraft tanken, bevor dann der nächste Winter mit neuen Hürden kommt und ich wieder in die Depressionen rutschen kann. Never ending story.
Sehe ich mich selbst als suizidal an? Nein.
Frage ich mich trotzdem regelmäßig warum ich das alles tue? Ja.
Halte ich trotzdem an meinem kleinen, altmodischen und spießigen Lebenstraum fest, weil ich tief in mir drin die Hoffnung habe, dass ich eines Tages mal über die Leitplanke klettern kann, weil mir die Autobahn groß und gefährlich vorkommt, wenn ich so nahe auf dem Standstreifen stehe? JA!
Irgendwo tief in mir drin schlummert dieser Lebenstraum und dafür lebe ich weiter. Auch, wenn ich ihn vielleicht nie erreichen werde, hält er mich am leben. Tag für Tag. Egal wie beschissen diese auch sein mögen.